Hikitsuchi Michio

war mehr als 30 Jahre lang Schüler von O Sensei Morihei Ueshiba. Beide zeichnete eine besonders enge Schüler-Lehrer-Beziehung aus. Hikitsuchi Sensei leitete seit 1957 das Kumano Juku Dojo in der japanischen Stadt Shingu, in dem O Sensei sehr oft zu Besuch war und gelehrt hat. Als einziger Schüler hat Hikitsuchi Sensei von O Sensei persönlich wenige Monate vor dessen Tod den 10. Dan verliehen bekommen.

Nach O Senseis Tod unterrichtete Hikitsuchi Sensei weiter in Shingu. In seinen Lehren und in seiner Art zu unterrichten, richtete er sich stärker als viele andere Lehrer nach O Sensei. Daran orientieren auch wir uns; fest zu unserem Training gehört so unter anderem das Masakatsu Bojutsu.

Hikitsuchi Michio beim Training mit dem BoHikitsuchi Michio wurde am 14. Juli 1923 in einem Dorf nahe der Stadt Shingu in der japanischen Präfektur Wakayama geboren. Als Waise wuchs er bei seiner Großmutter auf. Sie beherrschte selbst den Umgang mit der Naginata (Hellebarde); weil sie nicht wollte, dass er auf die schiefe Bahn geriet, ließ seine Großmutter ihn schon früh Kampfkunst studieren.

So begann er mit neun Jahren Judo zu lernen, später Kendo, den Umgang mit der Lanze (Yari), das Reiten (Bajutsu), Wurftechniken (Shuriken), Karate und Iaido.

Mit 14 Jahren lernt er Morihei Ueshiba kennen

Weil seine Großmutter eine Freundin des Aikido-Gründers war, lernte Michio Hikitsuchi 1936 mit 14 Jahren Morihei Ueshiba im Nahen Tanabe kennen. Von diesem Zeitpunkt an lernte er auch Aikido-Budo, wie Ueshiba seine Kunst damals nannte. Zwischen Ueshiba und Hikitsuchi entwickelte sich eine enge Lehrer-Schüler-Beziehung. Doch durch den Zweiten Weltkrieg kam er zu einer Trennung.

Als der Krieg beendet war, nahm Hikitsuchi sein Training in Shingu wieder auf. Während einer Kendo-Einheit rief Morihei Ueshiba an und bat um ein Treffen an einem Badeort in der Nähe von Shingu. Hikitsuchi ließ alles stehen und liegen und sprang auf sein Motorrad, um seinen Lehrer wiederzusehen. Sie diskutierten die ganze Nacht über Budo; am Ende fragte Ueshiba Hikitsuchi, ob er ihm folgen wolle.

Ueshiba zeigt ihm einen neuen Weg

Nach dem Krieg arbeitete Michio Hikitsuchi fünf Jahre lang als Buchhalter in einem Holzbetrieb. Er beging den Fehler, ein Papier zu schnell mit seinem Siegel zu versehen (in Japan besitzt jeder ein eigenes Siegel, dessen Abdruck als Unterschrift dient), und hat plötzlich Schulden von mehreren Millionen Yen. Um die zurückzahlen zu können, musste er das gesamte Hab und Gut seiner Familie verkaufen.

Morihei Ueshiba nahm das Siegel an sich und forderte Hikitsuchi auf, ein neues anzufertigen; von nun an solle er nur noch dem Weg des Budo folgen.

Morihei Ueshiba trainiert sehr oft mit seinem langjährigen Schüler

Im Jahre 1954 wird im Auftrag von Morihei Ueshiba in Shingu ein Aikido-Dojo errichtet. 1957 verleiht O Sensei Hikitsuchi das Diplom im Bujutsu Aikido.

„Im Jahre 1957 im Sommer gegen 1 Uhr am Morgen sagte O Sensei zu mir, ich solle aufstehen und ihm folgen. Wir gingen zum Dojo und  haben Ken und Aikido trainiert. O Sensei forderte mich auf, ihn mit meinem Ken anzugreifen. Nachdem ich das mehrere Male getan hatte, bemerkte ich, dass das Ende von O Senseis Bokken abgebrochen war.

Wir beendeten das Training,  ich machte mich auf die Suche nach der abgebrochenen Spitze, aber ich konnte sie nicht finden. O Sensei sagte: „Ist es nicht das, was Du suchst, Michio San?“ Und er holte aus seinem Keiko-Gi das abgebrochene Ende des Bokken hervor.

Normalerweise fliegt ein abgebrochenes Bokken-Ende weit weg; wie kam es, dass es diesmal im Innern von O Senseis Keiko-Gi gelandet war? Ich konnte das nicht verstehen. In diesem Moment habe ich geglaubt, O Sensei sei ein Gott.“

Nach diesem Training lehrt ihn O Sensei das Geheimnis des Sho Chiku Bai No Ken und überreicht ihm eine Schriftrolle: die Bojutsu Massakatsu Oku Hissaden.  Diese Rolle enthält Zeichnungen und Erklärungen zum Bojutsu von Morihei Ueshiba. Die Zeichnungen stammen von Kanda Massami, der Text von O Sensei selbst.

Hikitsuchi Michio erhält den 10. Dan von Ueshiba

Hikitsuchi Michio trainiert auch später weiter mit Morihei Ueshiba. O Sensei kommt oft in sein Dojo in Shingu, um dort zu lehren. Sechs- bis achtmal im Jahr soll er dort einige Wochen verbracht haben, insgesamt mehr als 60mal.

Am 10. Januar 1969 erhält Michio Hikitsuchi aus den Hände von Morihei Ueshiba den 10. Dan verliehen. Anwesend ist dabei auch Kubokatsu Hiroo, der einst O Senseis erster Aikido-Schüler in Shingu war. O Sensei sagte zu Hikitsuchi: „Ich habe dich alles gelehrt, Michio San; heute gebe ich dir den 10. Dan.“

Doch 1969 ist für Hikitsuchi ein schweres Jahr. Am 16. April stirbt Morihei Ueshiba plötzlich, keinen Monat später auch Hikitsuchis eigener Sohn. Zu diesem Zeitpunkt beschließt Hikitsuchi, dass er Aikido entwickeln und weitergeben muss, wie der Gründer es zuvor in aller Welt gelehrt hatte.

Das Dojo in Shingu wächst schnell

Das Dojo in Shingu wird immer größer. Im Jahre 1973 wird ein Dojo mit 131 Tatami (mehr als 200 Quadratmeter) eröffnet.

Auch die Zahl ausländischer Schüler nimmt zu, vor allem die der Amerikaner. So kommt es, dass Hikitsuchi Sensei 1974 und 1978 zusammen mit Lehrern seines Dojos in die Vereinigten Staaten fährt.

1984 kommt er zum ersten Mal nach Frankreich und von da an jedes Jahr bis 1987. Doch 1988 erkrankt er an Krebs und kann nicht mehr nach Europa fahren. In den wenigen Jahren zuvor hatte sich aber bereits eine feste Gruppe von Lehrern gefunden, die Hikitsuchi folgen wollten; sie waren überzeugt, dass seine Art, Aikido zu unterrichten, den Lehren Morihei Ueshibas sehr nahe kam.

Hikitsuchi unterrichtet Aikido auch in Europa

Wegen seiner Erkrankung musste Hikitsuchi Michio zweimal operiert werden. Er versuchte, es mit Humor zu nehmen. Nach der zweiten Operation sagte er: „Ich bin zum Himmel aufgestiegen. Aber als Gott mich sah, befahl er mir, auf die Erde zurückzukehren, denn es sei noch zu früh und ich müsse weiter Aikido unterrichten.“ Hikitsuchi übersteht seine Krankheit; ab 1992 reist er auch wieder zu Lehrgängen nach Europa.

Im März 1991 erhält er im Nihon Budokan in Tokio (einer bekannten Kampfsporthalle) aus der Hand von Doshu Kisshomaru Ueshiba eine Auszeichnung für seinen Beitrag zur Entwicklung des Aikido und mehr als 50 Jahre Unterricht.

Reisen fallen ihm immer schwerer

Bis 1998 lehrt Hikitsuchi Michio weiter. Sein Gesundheitszustand verschlechtert sich im Laufe der Jahre, sodass es nicht mehr reisen kann. Er unterrichtet jedoch weiterhin in seinem Dojo in Shingu.

Dort stirbt er am 2. Februar 2004 um 15.45 Uhr.

Nach seinem Tod erhält Hikitsuchi Sensei den buddhistischen Namen Shin Ki Gen In Den Saimin Eikitsu Koji I. (Eiketsu = der große Mensch; Koju = Laienbuddhist; Saimin = das Leiden der Leute erleichtern)

Sein Dojo in Shingu wird nach seinem Tod von Motomichi Anno (8. Dan Aikikai) geleitet.

 

Dieser Text basiert auf der Biografie auf der Internetseite der Association Française d'Aikido Traditionnel du Japon www.afatj.com, ins Deutsche übertragen von Reyk Grunow.